Green seven 4 - Daumen hoch
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Hallo ihr!
Ich melde mich kurz vor der mittlerweile 4. (und 5., das Tippen dauert ewig) Nacht im Zelt, und ich kann schon einiges erzählen, will aber vor allem in diesem Zuge auch ein paar Gedanken auf Papier bringen. Vielleicht habe ich das Selbstbewusstsein, diesem Blog immer mehr meinen Stil aufzudrücken, sodass ihr, ehe ihr euch verseht, keine lebendigen Abenteuer-Dokumentationen lest, sondern die müden, reflektiven Gedanken, die daraus entstehen.
Es braucht ungewöhnlich lange, diese Sätze zu schreiben, und das liegt an dem Anfang des zweiten Tages der Anfahrt; an einem wirklich schönen und anstrengenden ersten Tag trafen sich Nino und ich morgens nach längeren Zugfahrten in Martigny und schafften es mit beeindruckend schweren Fahrrädern noch ca. 1500 hm bis nahe an die Spitze des St. Bernard-Passes, auf dem wir dann noch die mit dem Auto angereisten Philipp und Ulla trafen und wunderbar zelten konnten.
Am nächsten Tag aber, den wir mit dem Rest des Passes beginnen wollten, habe ich beim Anfahren mein Gleichgewicht verloren, wollte mit meinen Füßen austarieren, hatte aber Klickies an, das heißt, meine Füße konnten sich nicht lösen. Aus Reflex habe ich dann meine Hände hochgerissen und das gesamte Gewicht mit meinem Daumen aufgefangen …
Ich schreibe jetzt schon relativ spät. Ich hätte der Transparenz wegen auch am Tiefpunkt etwas schreiben sollen; die ganze Aktion stand an dem Punkt nämlich für mich auf dem Spiel. Ulla hat mich dann in die Notaufnahme in Aosta gebracht, und nach ein bis zwei Stunden sehr freundlicher Behandlung wurde ich mit einer Schiene am Daumen nach Hause geschickt, die ich sieben Tage tragen sollte. Mittlerweile sind vier Tage vergangen, und es ist schon ein gutes Stück besser geworden. Die Möglichkeit eines frühen Endes für mich ist erstmal von der Bildfläche, aber es war intensiv. Die Schiene macht leider auch die Handynutzung mit dem Daumen unmöglich, was mich hier so kurz angebunden und auch schon auf mehrere Abende aufgeteilt schreiben lässt …
Eine kleine Feuerprobe des Daumens war die Besteigung des Gran Paradiso, unseres ersten Bergs auf der Liste. Vor einer Woche habe ich zum Gran Paradiso schon mal Folgendes geschrieben:
Der Gran Paradiso ist auch schon der erste Point of Interest und kein unumstrittener. Die Bestimmung der höchsten Gipfel der Alpenländer machen nicht wir, wir sind auch nicht die Ersten, die auf diese Seven-Summit-Ecopoint-Idee kommen, d. h. ebendiese sieben Gipfel mit eigener Muskelkraft hintereinander zu besteigen. Aber die offizielle Setzung der Gipfel ist nicht trivial. Berge sind nicht selten Grenzpunkte für Länder, sodass ursprünglich der Gipfel genau auf der Grenzlinie liegt, und bei der Bestimmung des höchsten Gipfels Italiens kommen alle Schwierigkeiten zusammen, die man bei so einer Bestimmung haben könnte. Denn ursprünglich war der Mont Blanc (Monte Bianco) ein eben solcher Grenzberg zwischen Frankreich und dem ehemaligen Herzogtum Savoyen, bis die Franzosen ungefähr mit der Erstbesteigung 1786 den Gipfel für sich beanspruchten. In Italien lehnt man bis heute den Namen „Mont Blanc“ ab und nennt das Massiv den „Monte Bianco“, der Kleinkrieg fand also bis heute kein Ende.
Doch auch wenn man diese kleine historische Ungereimtheit ignoriert, es wahrscheinlich aus gutem Grund einfach für den früheren Lauf der Dinge akzeptiert, dass eine Seite sagt „Das gehört jetzt uns“ und die andere Seite dies entweder einsieht oder dementsprechend antworten muss, so bleibt noch ein anderes, fast philosophisches Problem bestehen: Was ist ein Berg? Oder ein Gipfel? Das Problem ist nämlich, dass auch ein Nebengipfel des Mont Blancs, der unumstrittener Weise in Italien liegt, noch deutlich höher ist (Mont Blanc de Courmayeur – 4.748 m) als der Gran Paradiso (4.061 m). Ein kleines Haufen-Paradoxon, bei dem es nicht um den Haufen selber geht, sondern um einen Nebengipfel des Haufens. Wie viel muss ich in der Mitte des Haufens wegnehmen, bis ich zwei Haufen vor mir habe – wenn man so will.
Da ich persönlich keine wirkliche Lust habe, an der Diskussion teilzunehmen, bin ich ganz froh, dass es selbst gewählte und akzeptierte Autoritäten gibt, die sich den Titel einer Entscheidungsgewalt schon vor uns angezogen haben. Gäbe es das nicht, wäre ich wohl einfach mit anderen Kategorien gekommen, da es unzweifelhaft einfach „lustiger“ ist, siebenmal auf verschiedene Massive zu steigen – wir werden mehr von den Ländern sehen.
Die Tour auf den Paradiso war wunderschön. Ein Teil von uns hat sich dazu entschieden, den Massen an Pilgerern, die über den Normalweg zur „Madonna“ wollen (eine Statue der heiligen Madonna am höchsten [s. o.] Punkt Italiens), über einen alternativen Klettersteig aus dem Weg zu gehen – und es war wunderbar. Eine leichte Mixed-Tour bei perfekten Bedingungen, und auf dem Klettersteig waren wir fast alleine und konnten auf die Schlange an Menschen auf dem Normalweg hinunterblicken!
Die Tour war auch eine mittelfristige Antwort auf Gedanken, die sich in der Zeit des Daumens wieder aufgefrischt fühlten; ich fühle nicht viel bei „Wieso mache ich das Ganze?“, dieser Gretchenfrage des Bergsports. Es ist eher diese unangenehme Klarheit darüber, warum ich hier bin, die mich beschäftigt. Man sehnt sich nach der Freiheit und überwältigenden Sorglosigkeit zurück, die man die ersten Male in den Bergen hatte, und man ist immer ganz nah dran, aber nie ganz da, und man sucht den letzten Nachdruck, das letzte bisschen im Höheren, im Extremeren – aber am Ende merkt man, dass es einen entfernt.
Aber vielleicht war da ein Gefühl, kurz, als man da in dieser einen Situation war, in der sich Druck löst oder gerade wo die Spannung am größten ist – als man da auf dem Gipfel des Gran Paradiso steht und man denkt: „Wenn ich nur noch mehr Druck aufbaue, wenn ich nur noch ein bisschen Intensiveres mache, dann bin ich vielleicht mal wieder kurz der kleine Junge, der das erste Mal auf einen Berg steigt. Dann bin ich nur noch einmal kurz so demütig wie vor zwanzig Jahren“ – und läuft damit mit aller Kraft vor dem weg, was der kleine Junge damals im Berg gefunden hat.
In diesem Sinne: Mont Blanc steht an. Und wenn etwas ein größeres Auf und Ab ist als die Wege unserer Tour, dann unsere Planung für die Besteigung des Mont Blanc. Der nächste Blogeintrag wird versuchen, das mal zusammenzufassen und von unseren Tagen am Berg erzählen. Ich hätte gerne noch weiter geschrieben und vor allem meinen Gedanken mehr Raum gegeben, aber das Tippen macht echt keinen Spaß. Bis bald!